Wundersame Begegnung
Wundersame Begegnung
Tagelanger Schneefall hatte Stadt und Land ist einen weißen Wintertraum verzaubert. Baumwipfel bogen sich unter der Last der glitzernden Pracht und die Hausdächer hatten sich mit weißen Hauben festlich für die Weihnachtsfeiertage herausgeputzt.
Franz Meier schob schon zum zweiten Mal an diesem Vormittag den
Neuschnee vom Dampfersteg in die dunklen Wellen des Chiemsees. In fünf
Minuten sollte die „Irmingard“ ablegen und die wenigen Passagiere auf die
Herreninsel bringen. Gerade mal sechs ältere Paare und eine Handvoll junge
Leute hatten Tickets gelöst. Er wartete. Sein Blick wanderte in immer
kürzeren Abständen zum Fahrkartenhäuschen. Sie müsste doch längst da
sein! Sie war doch sonst immer überpünktlich!
„Wird schon nix passiert sein“, murmelte er vor sich hin und strahlte im
nächsten Augenblick über das ganze, wettergegerbte Gesicht, als er eine
schlanke Frauengestalt im langen Wildledermantel beschleunigten Schrittes
vom Parkplatz her kommen sah.
Er beobachtete sie bewundernd, während sie die Fahrkarte löste und
lächelnd den Dampfersteg betrat.
„Grüß Gott“, rief er ihr entgegen. „Das ist aber schön, dass wir uns auch
dieses Jahr wieder an Weihnachten sehen.“
Sie lachte leise und wechselte ein paar freundliche Sätze mit ihm, während
er ihr galant den Arm bot und sie in den großen Fahrgastraum begleitete.
Mit leuchtenden Augen sah sie sich um. Ihre Blicke musterten rasch und
konzentriert alle anwesenden Personen, wanderten hinaus auf den
menschenleeren Steg und wieder zurück, um nochmals jeden einzelnen
Fahrgast gründlich zu taxieren.
Tiefe Enttäuschung zeigte sich spontan auf ihrem Gesicht und war trotz
ihres Bemühens nicht wegzulächeln. Mit hängenden Schultern ließ sie sich
auf eine Sitzbank fallen.
Einem Franz Meier entging so was natürlich nicht! Seit fast vier Jahrzehnten
war er bei der Chiemseeflotte angestellt und hatte sich im täglichen Umgang
mit Touristen und Einheimischen eine grandiose Menschenkenntnis
angeeignet.
Die Frau war ihm vor ungefähr vier oder fünf Jahren durch ihre
sympathische und attraktive Erscheinung aufgefallen. Nicht dass sie eine
makellose Schönheit gewesen wäre, gewiss nicht, aber mit ihrem eleganten
Auftreten und ihrer selbstbewussten Ausstrahlung wusste sie stets viele
Blicke auf sich zu ziehen.
Er kannte noch nicht mal ihren Namen. Wäre da nicht seine Elisabeth
gewesen, mit der er mittlerweile seit siebenunddreißig Jahren glücklich verheiratet war, er hätte wohl versucht, mit der Frau ein wenig anzubandeln.
Franz Meier schmunzelte: Wenn das seine Elisabeth wüsste!
Seit Jahren schickte sie ihn immer am vierundzwanzigsten Dezember - sehr
zur Freude seiner Kollegen - zur Arbeit, weil er ihr bei ihren akribischen
Weihnachtsvorbereitungen angeblich nur im Wege stand. Er wusste
natürlich nur zu genau, dass sich seine Elisabeth das ganze Jahr über auf
Heilig Abend im Kreis der Kinder und Enkelkinder freute und jedes Mal
noch mehr Anstrengungen unternahm, damit es für die ganze Familie ein
wunderbares und harmonisches Fest wurde.
So kam es also, dass Franz Meier mit der geheimnisvollen Frau, die er auf
Anfang Fünfzig schätzte, Bekanntschaft gemacht hatte. Jahr für Jahr fuhr sie
gegen Mittag von dem beschaulichen Ort Prien am Chiemsee mit einem
Dampfer zur Herreninsel und am späten Nachmittag wieder zurück. Immer
allein und immer mit erwartungsvollem Blick bei der Ankunft und traurigen
Augen bei der Rückfahrt.
Er hatte sich schon oft Gedanken darüber gemacht: Was trieb die Frau stets
an Heilig Abend auf die Herreninsel? Wen suchte sie?
Für Franz war alles klar: Hier konnte es sich nur um eine
Herzensangelegenheit handeln!
Mit einem aufmunternden Lächeln spendierte er der hübschen Dame ein
Glas heißen Tee und plauderte Belangloses, während sich die behäbige
„Irmingard“ stampfend der Herreninsel näherte.
Wie gewohnt schlug Regina Brunner vom Dampfer-Anlegeplatz aus den
Weg zur Nordseite der Herreninsel ein. Bis zur Kreuzkapelle war es nur ein
kurzer Fußmarsch.
Große, weiche Schneeflocken taumelten vom wolkenverhangenen Himmel,
begrenzten die Sicht auf wenige Meter und blieben an Mütze und Mantel
hängen. Sie atmete in tiefen Zügen die kalte, reine Winterluft und ließ ihren
Gedanken und Gefühlen freien Lauf. Hier war sie ungestört, niemand würde
ihre Tränen sehen. -
Heilig Abend vor fünf Jahren: Sie ist der glücklichste Mensch der Welt.
Peter hat sie fest an sich gedrückt und sie genießen schweigend den
herrlichen Blick von der Kreuzkapelle aus auf die nördlichen
Chiemseebuchten. Gleich werden sie die Christmette in der Marienkapelle
beim Augustiner Chorherrenstift besuchen, danach in der früh
hereinbrechenden Dunkelheit mit einem Dampfer zurück aufs Festland
fahren und sich dann voneinander verabschieden. Es werden Monate
vergehen bis sie sich wieder für ein paar unendlich kostbare Tage treffen
werden. Irgendwo. Heimlich.
Niemand weiß von ihrer Beziehung. -
Regina runzelte gedankenverloren die Stirn. Es war das letzte Mal gewesen,
dass sie Peter gesehen hatte.
Seither kam sie – getrieben von Sehnsucht und Hoffnung – stets an Heilig
Abend zur Herreninsel, verbrachte hier ein paar Stunden in noch immer
überwältigenden Erinnerungen, um letztendlich doch wieder allein und
enttäuscht die Rückfahrt anzutreten.
Wehmütig verharrte sie ein paar Minuten an der Kreuzkapelle und blickte
sich suchend um.
Kein Mensch weit und breit.
Bedrückt schlug sie den Insel-Rundwanderweg nach Süden ein. In der
gedämpften Stille war nur das Knirschen des Schnees unter ihren Stiefeln zu
hören.
Nicht weit vom Schloss Herrenchiemsee begann ihr Herz plötzlich wie wild
zu rasen. Sie hatte im Schlosspark trotz dichtem Schneetreiben eine Person
erspäht, in der sie für einen Moment Peter zu erkennen glaubte. Aber noch
ehe sie die Stelle erreichte, war der Unbekannte verschwunden. -
Das war schon einmal vor zwei Jahren passiert. Damals war sie wie vom
Blitz getroffen stehen geblieben bis sich der Mann aus ihrem Gesichtsfeld
entfernt hatte. Später war sie auf der Suche nach ihm kreuz und quer über
die Insel gelaufen. Ohne Erfolg. Seitdem quälte sie sich mit der stets
gleichen Frage: Hatte sie möglicherweise Peter gesehen?
Regina schalt sich eine Närrin. Warum konnte sie nach all der Zeit nicht
endlich einen Schlussstrich ziehen? Sie musste dringend mit ihrem
Wunschdenken aufhören und die Realität akzeptieren: Peter war seit fünf
Jahren spurlos aus ihrem Leben verschwunden! -
Dennoch folgte sie mit immer schneller werdenden Schritten den Fußspuren
des Unbekannten im Schnee. Nach wenigen Minuten hatte sie ihn eingeholt.
Ihre Nerven flatterten.
„Peter …?“
Der Mann drehte sich langsam um. – Erstaunte Augen musterten sie von
Kopf bis Fuß, dann glitt ein breites Lächeln über das stoppelbärtige Gesicht.
„Bedauere, aber wenn Sie sich mit einem Manfred anfreunden könnten ...?“
Regina starrte ihn irritiert an und murmelte schließlich gepresst eine kurze
Entschuldigung. Dann hastete sie eilig an ihm vorbei.
Verzweifelt versuchte sie gegen die aufsteigenden Tränen anzukämpfen. Unendlich enttäuscht setzte sie sich auf eine der vielen wunderbar verschneiten Brunnenumrandungen.
Schließ endlich diese Geschichte ab, forderte ihr Verstand zum tausendsten
Mal. Dein Peter hat Frau und Kinder! – Mach dir nichts vor! - Er ist sowieso
bloß vier oder fünf Mal pro Jahr für ein paar Wochen geschäftlich nach
Deutschland gekommen und bei diesen Gelegenheiten hat er sich kaum
mehr als an den Wochenenden für dich Zeit genommen. Das ganze übrige
Jahr war er in New York bei seiner Familie. So wichtig kannst du ihm gar
nicht gewesen sein!
Mittlerweile weißt du ja nicht mal mehr, wo er sich aufhält - und ob er
überhaupt noch lebt! -
Regina fröstelte: Nein, diesen Gedanken würde sie nicht zulassen!
Aber warum hatte er nach dem letzten Treffen nie mehr wieder etwas von
sich hören lassen?
Diese Frage stellte sie sich Tag für Tag. -
Kurz nachdem sie sich zum ersten Mal am Münchener Flughafen begegnet
waren, hatte sich Peter ein Handy besorgt, dessen Nummer ausschließlich
Regina bekannt war. Außerdem hatten sie sich beide eine E-Mail-Adresse
eingerichtet, die ebenfalls niemand außer ihnen kannte. So konnten sie
miteinander telefonieren, sich schreiben, Fotos schicken und sich
gelegentlich mittels Internet und Webcam unterhalten.
Sie hatte Peter´s Wunsch nach Diskretion und Heimlichkeit akzeptiert,
zumal sie zum Zeitpunkt des Kennenlernens – konnte das wirklich schon
fast zehn Jahre her sein? - selbst noch verheiratet gewesen war, wenngleich
sie damals aufgrund der zunehmenden Spielsucht ihres Mannes eine
Scheidung bereits in Erwägung zog.
Peter´s Kinder waren zu dieser Zeit gerade mal drei und vier Jahre alt. Ihretwegen wollten er und seine Frau vorläufig auf eine Trennung verzichten, obwohl ihre Ehe längst zu einer Wirtschafts- und Interessengemeinschaft verkommen war. Das zumindest beteuerte er Regina gegenüber immer und immer wieder.
Ein glückliches Lächeln huschte über ihr Gesicht: So unsterblich verliebt war sie noch nie vorher in ihrem Leben gewesen! Peter war der wunderbarste Mann, den sie sich vorstellen konnte. Ohne viele Worte verstanden sie einander, teilten gemeinsame Interessen und schmiedeten Zukunftspläne. Für beide war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. -
Ihr Verstand ließ nicht locker: Unbelehrbare Träumerin! – Warum existiert seine Handynummer und seine E-Mail-Adresse nicht mehr? Warum hat man dir auf all deine Anrufe in seinem Büro stets nur die Auskunft erteilt, dass Dr. Peter Berg nicht mehr in dem Unternehmen tätig sei und weitere Angaben zu seiner Person nicht gemacht werden dürften? Warum hast du bei rund einem Dutzend Telefonaten, die du in den ersten Monaten nach seinem Verschwinden unter den fadenscheinigsten Vorwänden mit seiner Frau geführt hast, immer nur die knappe Auskunft bekommen, dass er für längere Zeit persönlich nicht erreichbar sei und alle privaten und geschäftlichen Angelegenheiten ausschließlich von ihr abgewickelt werden würden? Warum hast du in endlosen Recherchen im Internet absolut nichts über ihn erfahren können, was aktueller als fünf Jahre ist? Warum quälst du dich noch immer? Warum, warum …??
Schniefend ließ sich Regina von der Bank auf den Boden gleiten.
„Ich vermisse dich so sehr, Peter!“
Als sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden, vergrub sie den Kopf
zwischen den Händen.
Nach und nach hatte der anhaltende Schneefall aufgehört und eine bleiche
Dezembersonne verwandelte den Schlosspark in ein glitzerndes
Wintermärchen.
Eine Landschaftsidylle wie auf einer Weihnachtskarte, dachte Regina
beeindruckt. Was für ein traumhafter Heilig Abend!
Entschlossen stand sie auf und kramte in ihrer Handtasche nach Spiegel und
Schminkzeug. Niemand sollte die Spuren ihres Seelenschmerzes in ihrem
Gesicht entdecken können.
Sie blinzelte. Vom südlichen Waldrand her näherten sich drei Personen:
Zwei Erwachsene und ein Kind mit auffallend blond gelocktem Haar.
Irgendwie kamen Regina die Leute bekannt vor. Sie hatte sie mit Sicherheit
schon öfters gesehen, nur konnte sie sich im Moment partout nicht an das
Wo und Wann erinnern. Ungewöhnlich war die Familie in jedem Fall: Der
Mann mit seltsam gekräuseltem Bart und einem altmodischen Cape, die
Frau mit einem großen dunklen Tuch, das sie über Kopf und Schultern
geschlungen hatte.
Während das seltsame Paar Arm in Arm still dem Weg folgte, hüpfte und
tanzte das Kind mit ausgebreiteten Armen und glucksendem Lachen durch
den Park, ließ sich rücklings in den Schnee fallen, rollte kleine Abhänge
hinunter und lief schließlich schnurstracks auf Regina zu.
Noch nie hatte sie in so strahlend blaue Augen geblickt. Sie konnte sich an
dem hübschen Jungen gar nicht satt sehen: Die Wangen von der Kälte sanft
gerötet, die weiche Lockenpracht, das vertrauensselige Lächeln. Fasziniert
von dem ungetrübten Glück, das dieses kleine Wesen ausstrahlte, konnte sie
kaum dem Wunsch widerstehen, es an sich zu drücken und festzuhalten. Als
hätte er ihre Gedanken gelesen, kletterte der Junge auf ihren Schoß und
umarmte sie mit einer Zärtlichkeit, die sie in tiefster Seele berührte.
„Ach, du süßer Engel“, flüsterte Regina. Die spontane Zuneigung des
Kindes verwirrte sie. Sie wollte etwas sagen, wusste aber nicht was.
Stattdessen verspürte sie eine Freude wie lange nicht mehr. Irgendetwas
ganz Seltsames passierte gerade. Nein, nichts Seltsames, vielmehr etwas
Wunderbares, das sie völlig unvorbereitet in ihrem tiefsten Inneren anrührte.
Von dem Kind schien eine Magie auszugehen, die ihr Herz erwärmte.
Regina schloss die Augen. Unbegreiflich! Gerade noch tief traurig, fühlte
sie sich nunmehr hochgehoben und getragen von einer Woge des Glücks.
Liebevoll hielt sie den Jungen fest und wollte ihn gar nicht mehr loslassen.
Schließlich wurde dieser unruhig und so stellte ihn Regina wieder auf die
Füße. Lächelnd streichelte sie ihm über den Kopf.
Da war es wieder - dieses unwiderstehliche, glucksende Lachen. Das Kind
strahlte übers ganze Gesicht und machte lustige Sprünge und Pirouetten, so
dass Regina begeistert klatschte und lauthals lachen musste.
Schließlich drehte es sich suchend nach seinen Eltern um. Diese warteten
nur ein paar Meter entfernt. Mit ausgebreiteten Armen lief es darauf zu und
wurde von der Mutter liebevoll aufgefangen und hochgehoben.
Da standen sie nun zu dritt und winkten Regina lächelnd zu. Wie Gelbgold
strahlendes Sonnenlicht hatte sich im Blondschopf des Jungen gefangen und
tauchte ihn in ein fast überirdisches Leuchten. Zusehends wurden die
Strahlen intensiver und reflektierten mit gleißenden Blitzen auf den
verschneiten Flächen. Regina blinzelte und wischte sich über die Augen.
Wie wundersam – irgendwie schien die ganze Familie in dem grellen Licht
zu einer Einheit zu verschmelzen. Was für eine Sinnestäuschung! Sie
schüttelte unwillkürlich den Kopf und hob schützend die Hände vors
Gesicht. Trotzdem fühlte sie ein Brennen auf den geschlossenen Lidern.
„Von wegen fahle Dezembersonne!“, murmelte sie verblüfft und drehte dem
gänzlich außergewöhnlichen Lichtspektakel geblendet den Rücken zu.
Wenige Augenblicke später schien die Landschaft um sie herum für kurze
Zeit in abrupte Dämmerung zu fallen. Eine Sonnenfinsternis? Ganz
bestimmt nicht! - Vielleicht sollte sie einen Augenarzt aufsuchen.
Möglicherweise litt sie ja unter einer akuten Augenentzündung. Aber gleich
so spontan und so heftig? Irgendwie war das alles doch sehr verwunderlich.
In jedem Fall musste sie der Angelegenheit nachgehen. Zunächst wollte sie
aber noch ein paar freundliche Worte mit der ungewöhnlichen Familie
wechseln.
Lächelnd drehte sie sich um: „Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie einfach
so ….“ Regina blickte verdutzt auf die Parkanlage vor ihr: Sie stand allein.
Von den drei Personen war nichts mehr zu sehen. Das konnte doch gar nicht
möglich sein! Verwirrt drehte sie sich mehrmals um die eigene Achse, lief
ein Stück des Weges nach Süden, dann nach Norden. Sie konnte einen
Großteil des Schlossparks frei überblicken. Niemals hätten sich die Leute in
der kurzen Zeit, in der sie ihnen den Rücken zugedreht hatte, aus ihrem
Gesichtsfeld entfernen können. Noch vor wenigen Augenblicken waren die
drei winkend vor ihr gestanden.
„Das gibt´s doch nicht!“ Regina schüttelte konsterniert den Kopf. Während
sie ihre Augen immer weiter konzentriert über verschneite Hecken, Wege,
Bäume und Brunneneinhausungen gleiten ließ, suchte ihr Verstand
angestrengt nach einer rationalen und plausiblen Erklärung. Tief in ihrem
Inneren aber war ihr, als wüsste sie, dass sie die einzig mögliche Antwort
bereits kannte. – Oh, mein Gott! – Das konnte doch gar nicht sein! – Sie
wollte weglaufen, aber ihre Füße gehorchten ihr nicht. So stand sie wie
angewurzelt und versuchte, das Unbegreifliche auf irgendeine Art und
Weise anzunehmen.
„Regina.“
Nur gedämpft drang eine Stimme an ihr Ohr.
„Regina.“
Sie erstarrte. Für eine kleine Ewigkeit setzte ihr Herzschlag aus, um sich
gleich danach in wilden Kapriolen zu überschlagen.
Sie wagte kaum, sich umzudrehen, tat es aber dann doch und blickte mit
weit aufgerissenen Augen in das Gesicht eines Mannes, das ihr im ersten
Augenblick völlig fremd vorkam, in dem sie aber schließlich doch vertraute
Züge entdecken konnte.
„P…Peter?“, stammelte sie fassungslos.
Der Mann nickte stumm.
Regina spürte, wie ihr der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Sie
taumelte und fürchtete, gleich das Bewusstsein zu verlieren. Aber sofort
waren da diese vertrauten Hände, die sie festhielten und stützten, und sie
dann sanft auf eine Steinstufe schoben.
„W.., wie…, wie bist Du hierher gekommen?“
Als hätte er ihre Frage nicht gehört, fühlte er ihren Puls und brachte dann
Regina´s Beine in eine erhöhte Position.
„Es wird Dir gleich wieder besser gehen, nur eine kleine
Kreislaufschwäche.“
Regina fühlte sich benommen und kraftlos. Ihre Lider waren schwer wie
Blei, alles an ihr zitterte.
Als sie bemerkte, dass Peter seinen Mantel auszog und ihn um ihre
Schultern legte, riss sie entschlossen die Augen auf und starrte ihn an.
Dieses fremde Gesicht! - Von Narben übersäht, unübersehbar eine
modellierte Nase, an der die chirurgischen Eingriffe noch deutlich erkennbar
waren, irgendwie war auch das Kinn verändert.
„Kein Wunder, dass Du fast ohnmächtig geworden bist. – Auf einen
entstellten Menschen warst Du nicht vorbereitet. – Tut mir leid.“
Abrupt wandte er sich ab.
Regina rang um Fassung. Irgendwie war das heute alles zuviel für sie.
Voller Mitgefühl betrachtete sie den Mann, den sie so ganz anders in
Erinnerung hatte. Er war sichtbar gealtert, das helle Haar von vielen grauen
Strähnen durchzogen.
„Bitte sag mir, was passiert ist.“
Noch immer drehte er ihr den Rücken zu. Die selbstbewusste Ausstrahlung,
die Energie von früher war unübersehbar einer resignierten Schwäche
gewichen.
„Peter, bitte.“ Vorsichtig stand Regina auf. Sie fühlte sich noch ein wenig
schwindelig, aber ihr Kreislauf hatte sich weitgehend stabilisiert.
Zögernd tastete sie nach seiner Hand. Er öffnete sie und drückte ihre ganz
fest.
„Ich hatte einen schweren Autounfall.“ Peters Blick schien an ihr vorbei in
weite Ferne zu schweifen. „ Es passierte nur wenige Tage nach unserem
letzten Treffen hier auf der Herreninsel. – Man hat mich bewusstlos aus dem
brennenden Wagen gezogen. Dass ich überlebt habe, ist ein echtes Wunder.
Es ist wirklich unbegreiflich.“
Weiches Sonnenlicht fiel auf sein Gesicht und zauberte einen warmen
Schein auf seine Haut. In den strahlend blauen Augen spiegelten sich
glitzernde Lichtpunkte. Blinzelnd strich er sich eine Haarlocke aus der Stirn.
Déjà-vu.
Oh, mein Gott – das Kind!
Regina verstand. Jetzt endlich verstand sie.
Lächelnd gab sie ihm seinen Mantel zurück. „Lass uns ein Stück durch den
Park gehen.“
Franz Meier sah sie schon lange, bevor sie den Dampfersteg betraten:
Arm in Arm, in ein vertrautes Gespräch vertieft, die Köpfe einander
zugewandt, strahlend.
So ein ungewöhnliches Paar hatte es in seinem ganzen Berufsleben noch
nicht gegeben!
Franz kannte den Mann. Aber trotz seiner routinierten Beobachtungsgabe
und seiner hervorragenden Menschenkenntnis wäre er nie auf die Idee
gekommen, dass diese Zwei zusammengehören könnten.
„Ja, da wenns´d ma ned gehst!“, staunte er mit offenem Mund. -
Ein Nachbar von Franz Meier hatte zum ersten Mal vor drei Jahren von
einem entstellten Mann berichtet. Dieser habe kurz vor Weihnachten für ein
paar Tage ein Fischerboot von ihm gemietet. Er konnte kaum was über das
Aussehen des Mannes sagen, da sich dieser mit dunkler Brille, riesigem
Schal und tief in die Stirn gezogenem Schlapphut vermummt hatte. Aber er
hatte den Eindruck gehabt, dass das Gesicht praktisch keine Nase gehabt
hätte.
Ein Jahr später war der Mann wiederum kurz vor Heilig Abend aufgetaucht
und erstmals habe er auch ein wenig von sich erzählt.
„Der kann einem wirklich leid tun“, wusste der Nachbar erneut zu berichten.
Offensichtlich hatte ihn seine Frau mit den zwei Kindern bereits vor
längerer Zeit verlassen. Zehn Operationen hatte er schon hinter sich und ein
halbes Dutzend würde noch vor ihm liegen.
„Muss schon was auf der hohen Kante haben oder einen Batzen Rente
beziehen. Wie sonst könnte er seit dem Unfall ohne Arbeit seinen
Lebensunterhalt bestreiten? Lebt offensichtlich ganz allein.“
Vor einem Jahr war dann auch Franz Meier dem Fremden mehrmals
begegnet. Die letzte Operation hatte sein Gesicht weitgehend wieder
hergestellt, so dass er immer häufiger in der Öffentlichkeit gesehen wurde.
Nur die Nase musste noch weiter aufgebaut und unterfüttert werden.
„Ich frag mich bloß, für was der jedes Jahr an Weihnachten ein Fischerboot
braucht“, wunderte sich der Nachbar immer wieder. „Hab jetzt schon von
mehreren gehört, dass sie ihn das ein oder andere Mal auf der Herreninsel
gesehen hätten.“
Eng aneinandergedrückt saßen sie trotz eisigem Fahrtwind auf einer kleinen
Sitzbank an Deck der „Irmingard“.
„Verstehst Du jetzt, warum ich so handeln musste?“ Peter hielt Regina so
fest im Arm, dass es ihr fast den Atem nahm.
„Ich verstehe Dich, selbst wenn diese Entscheidung für jeden von uns sehr
schmerzlich gewesen ist. Wahrscheinlich hätte ich es an Deiner Stelle aber
genauso gemacht.“ Liebevoll zeichnete sie mit dem Finger die Kontur seiner
Nase nach. „An die muss ich mich erst gewöhnen“, meinte sie lächelnd.
„Ja, warte erst mal noch zwei, drei Jahre. Dann werde ich der schönste aller
Männer sein!“ Sein leises Lachen rührte sie zu Tränen.
Franz Meier strahlte wie ein Honigkuchenpferd: Für ihn war jetzt Arbeitsschluss. Zuhause wartete die ganze Familie bestimmt schon mit Ungeduld auf seine Heimkehr. Er würde heute eine wundersame Geschichte zu erzählen haben. Und zwei außergewöhnlichen Menschen wünschte er aus tiefstem Herzen alles Glück der Welt.
Im weihnachtlich erleuchteten Prien am Chiemsee kündete heller Glockenklang vom Wunder der Heiligen Nacht. „Frohe Weihnacht, Peter“, sagte Regina glücklich. „Lass uns heimfahren.“
Titel: Wundersame Begegnung
Autor: Traudl Wirsing
Copyright: Traudl Wirsing
gepostet von Traudl Wirsing
am 30.11.2011 00:23
E-Mail: traudl.wirsing@gmx.de
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