Waldi und die ganze Plüschtierschar retten Nils
Die erste Westreise in der Adventszeit 1989
In einem kleinen sächsischen Städtchen wohnt der zehnjährige Nils Lesegern. Den größten Teil seiner Freizeit verbringt er mit dem Lesen von Märchen- und Geisterbüchern. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als dass seine Helden lebendig werden, um ihn in die große weite Welt mitzunehmen.
Vor 23 Jahren eine Woche vor Heiligabend passierte für Nils ein doppeltes Wunder. Er durfte zum ersten Mal in seinem Leben mit seinen Eltern in den Westen fahren.
Drüben angekommen, blieb er vor einem riesigen Schaufenster mit Plüschtieren stehen. Die Eltern baten den Jungen, doch weiterzugehen. Er sagte: „Bitte lasst mich noch einen Moment verweilen.” Plötzlich nickte ihm ein blauer Stoffhund zu. „Mutti, Mutti! Der große blaue Plüschi nickte mir zu.” „Nils, bitte beruhige dich. Das sind nur die vielen neuen Eindrücke. Ich kaufe dir das Tier.” Freudig umarmt er seine Mutti und sagt: „Danke! du bist die Beste.”
Am späten Abend erfolgt die Fahrt ins heimische Thüringen. Nils hält seinen neuen Freund ganz fest in den Armen. Nach dem ersten Halt findel Nils einen Sitzplatz. Auf diesen setzt er aber das blaue Hündchen und sagt: „Gelle, für dich ist die Fahrt in den Osten auch beschwerlich. Du hattest es im Westen viel schöner. Ich nenne dich Waldi.” Das Hündchen nickt wieder. Nils Mutter kann es nicht glauben, dass er genickt hat. Der Junge hatte doch den Plüschhund gar nicht berührt. „Sicher ist da etwas elektronisches drin. Davon verstehe ich aber nichts”, denkt sich die Mutter.
Vor dem heimischen Bahnhof wartet Opa Lesegern mit seinem himmelblauen Trabant. Der kleine Kofferraum füllt sich zusehens. Nils nimmt Waldi auf den Schoß. Als Opa Heinrich das Tier erblickt sagt er spaßhaft: „Was hast du denn für ein Urvieh mitgebracht?”
„Muss du den Kleinen so ärgern? Er ist ganz stolz auf seinen Waldi. Nils bildet sich sogar ein, dass er zustimmend nicken kann”, sagt die Mutter entschuldigend. Die Familie erreicht das Haus in der Altstadt. Die
Mutter ermahnt Nils, dass er sich sofort gründlich waschen und die Zähne putzen soll und anschließend schnell ins Bett zu gehen hat. Vorerst legt der Zehnjährige sich ein Buch als Schlaflektüre zurecht. Nach der Wäsche betritt der Junge wieder das Kinderzimmer. Das Buch hält Waldi in der Hand. Diese Begebenheit nimmt Nils noch nicht so ernst, zumal es ja seine Eltern sowieso nicht glauben. Das Buch trägt den Titel: „Vom Teddy der beim Abwaschen half”. Binnen kurzer Zeit schläft der Junge ein. Plötzlich beginnt in der Küche ein Rumoren. Opa Heinrich begibt sich in den Raum, schaut nach dem Rechten und ruft seine Schwiegertochter: „Simone! Du solltest doch nach der langen und anstrengenden Fahrt nicht abwaschen." Sie verneint. Opa Heinrich sagt leise vor sich hin: „Merkwürdig!” Nachdem sich alle ins Bett begeben haben, beginnt das Poltern erneut. Dieses Mal sieht die Mutter erst in die Küche und bemerkt, dass das Geschirr ordentlich in den Schrank eingeräumt ist. Anschließend begibt sie sich in das Kinderzimmer und stellt fest, dass zwei Lebewesen schnarchen. Als sie näher zum Plüschhund tritt, hört das zweite Schnarchen auf. „Merkwürdig!” sagt sie wie der Opa und begibt sich erneut ins Bett. Simone sagt ihrem Mann: „Das sind sicher die Nerven. Die Fahrt war auch so anstrengend. Am Ende habe ich sogar selbst abgewaschen.”
Am nächsten Tag bleibt Nils noch ein wenig länger im Bett und liest das Buch „Wie die Heinzelmännchen Schuhe reparierten”. Die Eltern diskutierten inzwischen, wer in diesem Jahr neue Schuhe bekommen soll. Der Kakao ist fertig. Die Mutter ruft Nils an den gedeckten Frühstückstisch. Nach Beendigung der Mahlzeit begibt sich der Junge in sein Zimmer, um schnell noch das begonnene Buch zu Ende zu lesen. Bein Betreten des Raumes hält Hündchen wieder das Buch zwischen beiden Pfötchen. Nach dem Mittagessen sucht Nils auf dem Boden einen Schlitten. Zum Rodeln auf der Hohle nimmt Nils seinen neuen Freund mit Die Hohle ist der höchste Berg in der Altstadt. Nach Einbruch der Dunkelheit begeben sich die meisten Kinder nach Hause. Als Nils nur noch allein mit Waldi den Berg hinunterrodelt, schnappt der Plüschhund die Leine und zieht den Schlitten hinauf. Nils läuft ebenfalls bergauf unc will Waldi etwas fragen. Er sagt nur: „Psst!” Gegen 19 Uhr traben beide zu Hause an. Der Zehnjährige trägt seinen Gefährten in das Kinderzimmer nahe der Heizung. Nach dem Abendessen beginnt der Junge mit der Abendtoilette. Anschließend schläft er mit einem Buch ein. Im Keller beginnt ein Poltern und Hämmern. Mit einer Taschenlampe bewaffnet begibt sich der Vater hinunter. Er ist verwundert, dass alle kaputten Schuhe auf dem Fußboden liegen. „Gewiss tat es der Opa, um sie im Heizkessel zu verfeuern,” denkt sich das Familienoberhaupt. „Es ist auch möglich, dass das Klopfen aus Opa Heinrichs Fernseher kam”, sinnt der Vater weiter. Er legt sich auch zur Ruhe.
Am nächsten Morgen finden alle Erwachsenen die einst kaputten Schuhe wie neu im Regal vor. Niemand traut sich etwas zu sagen, in der Annahme, der andere hätte die Tat vollbracht. Bevor das jüngste Familienmitglied aufsteht, liest es noch in der Broschüre „Wie wasche ich fachgerecht Gardinen?” Es versteht sich, dass nachdem er das Zimmer verließ, sein Freund Waldi das Buch in den Pfoten hält. Am Frühstückstisch sagt die Mutter: „Nils, wenn du von der Schule kommst gehen wir gleich in die Stadt. Da der Lehrer Wersin erkrankte, war für den zehnjährigen Jungen die Schule schon um 9 Uhr beendet. Beide begaben sich in die Stadt und betrachteten die ärmlich ausgestalteten Fenster des Kinderkaufhauses. Plötzlich beginnen Nils seine Augen zu funkeln. Im Schaufenster sitzt eine braune Robbe. Die Mutter betritt das Geschäft und sagt: „Ich möchte das braune Plüschtier aus dem Schaufenster.” Die Verkäuferin erwidert in einem barschen Ton: „Das ist erst nach Dekorationswechsel möglich. Nehmen Sie eine Pionierbluse, die kann der Kleine immer gebrauchen.” Die Mutter schieb der Verkäuferin einen Ostzwanzigmarkschein zu. Das erweicht das Herz der Konsumangestellten. Flugs holt sie die Robbe aus der Schaufensterdekoration und tauscht diese gegen mehrere Pionierhalstücher um. Stolz trägt der Junge sein zweites Plüschtier Marke „East Germany” nach Hause. Ob sich der Ossi und der Wessi vertragen? Nils begibt sich in das Kinderzimmer und stellt den Neuling, welchen er Robby nennt, neben Waldi. Die Mutter sieht nach dem Rechten und stellt fest, dass Waldi an Robby schnuppert. Sie kann es nicht glauben und behält deshalb das Geheimnis für sich. Inzwischen kehrt Nils von seinen Klassenkameraden heim und will schnell zu seinen Freunden. Mutti flüstert: „Warte! Ich komme mit.” Auf Zehenspitzen betreten beide das Kinderzimmer und merken, dass Robby die Seite mit den Gardinenwaschhinweisen aufschlug. Genauso geräuschlos, wie sie kamen, verließen beide das Zimmer. Das Familienoberhaupt starrt beide wegen ihrer seltsamen Gebaren an. Die Mutter beordert die ganze Familie in die Küche und tut die Begebenheiten kund. Während des Abendessens entfernt sich Opa unauffällig. Beim Betreten des Kinderzimmers macht er eine Kehrtwendung und stürzt aufgeregt die Treppen hinunter. Stotternd sagt er: „Die Gardinen wurden gestohlen. Diebe! Diebe!” Die Mutter beruhigt den Hausältesten und bittet darum, leise zu sein. Ausnahmsweise darf Nils auch noch Fernsehen. In der Zwischenzeit beginnt in der Waschküche ein Rumoren. Einige Zeit vergeht und der Tumult ist zu Ende. Alle begeben sich ins Bett. Am Morgen des nächsten Tages hängen überall blütenweiße Gardinen. Nach dem Unterricht weist die Mutte:. auf ein in der ganzen Stadt aushängendes Plakat hin. Es werden Schüler zum einmal wöchentlichen Austragen einer Anzeigenzeitung gesucht. Sie sagt: „Nils, wäre das nichts für Dich? So könntest du dir zum Taschengeld ein wenig dazuverdienen und die Plüschtiersammlung ständig erweitern.” Der Knabe ist hellauf begeistert. Nach einem Monat erhält Nils den ersten Botenlohn. Es versteht sich, dass er zwei große Plüschtiere kauft. So wurden es von Monat zu Monat mehr, bis schließlich der Winter wieder in das Land zog. Im allgemeinen nahm der Junge beim Spielen im Freien immer eines der Plüschis mit. Eines Tages nach Schulschluss vergaß er diesen Vorsatz. Der nahegelegene Teich lockte zum Schlittern. Plötzlich gibt die Eisdecke nach und Nils bricht ein. Der Bube schreit: „Hilfe, Hilfe, ich ertrinke!” Etwa 30 Sekunden nach dem Aufschrei versammeln sich etwa vierzig Plüschtiere am Wasser und bilden eine Kette. Nils kann sich auf diese Art und Weise an das Ufer ziehen. So wurden seine Freunde zum Lebensretter. Es versteht sich, dass alle Tiere von der gesamten Familie getrocknet wurden. Sogar die Nachbarn mussten mit einem Fön aushelfen. Nils vergaß seit diesem Tag nie, eines der Plüschtiere mitzunehmen. In die Schule nahm er nur einen Hund mit. Seit dieser Zeit bekam er auch nur noch gute Zensuren.
Immer wieder erzählt Nils die Geschichte inzwischen seinen Kindern zur Weihnachtszeit.
Titel: Waldi und die ganze Plüschtierschar retten Nils
Autor: Peter Benz
gepostet von Peter Benz
am 11.12.2012 16:39
E-Mail: klauspeterb (at) t-online.de
→ Alle Peter Benz Geschichten auf den Fest- und Feiertagsseiten
Christkindls Weihnachtsgeschichten