Neue Heimat


Neue Heimat

„Herbergsgeschichte“ von Gabriele Maricic-Kaiblinger

Der Schnee knirschte unter seinen Füßen, als er den kleinen Weg entlang stapfte, der ihn aus dem Wald hinausführte. Er hatte Zweige und Zapfen gesammelt, um die kleine Wohnung heimelig zu gestalten. Die Plastiktasche, die er damit gefüllt hatte, trug er in der einen Hand, mit der anderen klaubte er größere Zweige auf, die sich am Wegesrand noch finden ließen. Trotz der Handschuhe waren seine Hände fast steif vor Kälte, doch das machte ihm nichts aus. Als die ersten Schneeflocken fielen und das fahle Licht des Neumonds die Dämmerung durchbrach, war er bereits am Waldesrand angelangt und konnte schon die Lichter des beschaulichen Bergdorfes sehen, das seit einiger Zeit seine Heimat war. Nicht mehr lange, dann war er angekommen.
Angekommen – er hielt kurz inne und sagte sich dieses Wort laut und langsam vor. Angekommen – das war ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Angekommen, Heimat, zu Hause sein. Tränen liefen ihm über die Wangen und doch lächelte er. Und dann lachte er, ganz kurz nur, aber lautstark.
In ein paar Tagen kam seine Familie und dann waren sie nach Monaten quälender Ungewissheit endlich wieder zusammen. Seine Frau, Tochter, Sohn und das das noch Ungeborene, das nun in Sicherheit zur Welt kommen durfte. Das sie umsorgen konnten, ohne Angst vor Übergriffen, Willkür und Gewalt haben zu müssen. Das sie beschützen konnten.
In ein paar Tagen – in ein paar Tagen feierte man hier Weihnachten. Auch für ihn und seine Familie würde in ein paar Tagen ein Festtag der Liebe sein. Ein Zeitpunkt, an dem sie beginnen konnten, das hinter sich gelassene Grauen zu verarbeiten und die schrecklichen Bilder, die wohl ein Leben lang immer wieder auftauchen würden, hinter sich zu lassen und durch schöne so gut wie möglich zu ersetzen. Und – sich irgendwann geborgen fühlen zu können.
Während er sich durch den mittlerweile heftigen Schneefall das letzte Stück Weg bahnte, dachte er über Religion nach. Christ, Muslime, Jude, Buddhist, Hindu oder was immer – war es nicht egal, welchem Glauben man anhing? Wichtig waren doch die Werte, die Achtung vor der Schöpfung und dem Leben, das Respektieren der Mitmenschen, ihre Andersartigkeit, ihre Würde. War sowieso so eine Sache mit den Religionen. Warum gab es so viele verschiedene? Das war für ihn unlogisch, konnte es doch nur eine einzige Wahrheit geben, eine, die für alle Menschen gültig war. Mit von Menschen hervorgebrachten Religionen – männerdominierend, wie seine Frau oft zu behaupten pflegte -, die einem Zwänge auferlegten und in eine bestimmte Denkschiene stecken wollten, konnte er so gar nichts anfangen. Um das Göttliche spüren zu können, um Vertrauen in eine alles umfassende Allmacht zu haben und Kraft in ihr tanken zu können, dazu brauchte es für ihn keine auferlegte Religion. Und mit Religionen hatte er sich lange befasst, war eingetaucht in unterschiedliche Ansichten, hatte Weisheiten und Unwahres, Friedvolles und Fanatismus entdeckt – alles zusammen in fast jeder Religion. Umso mehr Widersprüchliches er festgestellt hatte, desto unbegreiflicher wurde es für ihn, dass jede Religion die einzige Wahrheit für sich beanspruchte und deshalb war er zu dem Schluss gekommen, dass es nur eine Wahrheit geben konnte, nicht viele verschiedene. D a s war sein Glaube.
Er war nun zu Hause angekommen, zog sich trockene Kleider an und legte gleichfalls die Zweige und Zapfen zum Trocknen aus. Dann machte er es sich mit einer großen Tasse Tee auf dem Sofa gemütlich und lebte in Gedanken schon ein paar Tage später.

Titel: Neue Heimat
Autor: Gabriele Maricic-Kaiblinger
gepostet von Gabriele Maricic-Kaiblinger
am 09.12.2014 18:27
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