Eine goldene Uhr
"Wunder? So ein Quatsch", meint Bernd lachend. "Ihr habt doch einen an der Waffel. So etwas gibt es doch nur im Fernsehen oder in der Bibel."
Acht Kegelbrüder sitzen in ihrer Stammkneipe und diskutieren über mystische und phantastische Phänomene. Es kommt nicht oft vor, dass sich die Freunde über solche Themen unterhalten. Doch nun sind sie mit Begeisterung bei der Sache. Es ist kurz vor Weihnachten. Ein Grund mehr für Bernd sich mal wieder über Menschen lustig zu machen die ernsthaft über solche Dinge nachdenken.
"Wenn ich einen in der Krone habe erscheinen mir immer alle möglichen Geister. Aber ob das etwas mit Phänomenen zu tun hat wage ich noch zu bezweifeln", schreit er lachend durch das Lokal.
Hermann mischt sich ein: "Kinder, denkt doch mal nach!", beginnt er mit überheblicher Stimme zu erklären. "Für alle außergewöhnliche Ereignisse gibt es meist eine natürliche Erklärung. Nur weil wir es im Moment nicht verstehen, muss es sich nicht gleich um etwas übernatürliches handeln."
"Richtig", bestätigt Bernd knapp.
"Ich weiß", meint der dünne Ralf mit erregter Stimme. "Die einzigen Phänomene an die ihr glaubt sind Fußball, Autos, Frauen, und Flaschenbier."
Nach einer Weile ist die Diskussion so heftig geworden, dass sie kein Ende zu nehmen scheint. Ralf ist ins Kreuzfeuer geraten.
"Es ist aber auch nicht ganz auszuschließen, dass es so etwas gibt", meint schließlich Thomas kleinlaut.
"Hört sich mal einer den kleinen Thomas an", meint Bernd lachend. "Der traut sich doch tatsächlich gegen uns zu diskutieren."
Fünf Kegelbrüder reden nun amüsiert auf die beiden unterlegenen ein. Marco hält sich erst neutral. Er überlegt ob er eine Geschichte erzählen soll. Als Ralf und Thomas immer mehr in Bedrängnis geraten, meldet er sich zu Wort:
"Moment mal Freunde! Vielleicht sollte ich euch einmal eine Geschichte erzählen, bevor ihr weiter diskutiert."
Erstaunt schauen sie ihn an.
"Huh, hört mal her! Wir haben einen Märchenonkel in unserer Mitte", ruft Bernd.
"Ach vergesst es! War ja nur so eine Idee", meint Marco ausweichend.
"Nee Nee Junge, jetzt raus damit", fordert Hermann.
"Ja, wir hatten heute ja noch keine Gute Nacht Geschichte gehört", lacht Bernd laut, so dass wieder die ganze Kneipe auf die Gruppe aufmerksam wird.
"Hätte ich doch nur meinen Mund gehalten", hört man Marco sagen. "Aber gut, wenn ihr es unbedingt wollt werde ich euch die Geschichte erzählen."
Marco atmet tief durch. Dann nippt er an seinem Bier, und fängt mit geheimnisvoller Stimme an zu erzählen: Es war lange, bevor ich meine Frau kennen lernte. Wieder einmal stand Weihnachten vor der Tür, doch das nützte mir nicht viel. Dieses Fest hatte mir nichts zu bieten. Die Straße war mein Zuhause geworden. Freunde, zu denen ich hätte gehen können, hatte ich nicht. So kam es, dass ich an diesem Heiligabend zum ersten mal allein war. Meine Familie wollte nichts mehr von mir wissen, und sonst hatte ich auch niemand mit dem ich das Fest feiern konnte, außer meiner Großmutter. Doch die war eine alte gebrechliche Frau. Da wollte ich nicht hin. Ich fragte mich ständig wieso ich überhaupt feiern wollte. Ich schlenderte durch die Straßen und spürte eine schreckliche Einsamkeit. Es war bereits dunkel, und die Geschäfte, Kneipen und Lokale hatten schon lange geschlossen. Ich wollte unter Menschen sein. Doch es war niemand zu sehen. Es war niemand da den ich fragen konnte wo hier noch was los ist. Ich war allein auf der großen weiten Welt. Wenn doch nur jemand von meiner alten Bande da wäre, dachte ich. Doch die hatten an diesem Tag sicher besseres zu tun als hinter mir herzulaufen. Ich schlenderte weiter allein durch die Straßen. Ich hörte Kinder lachen, und wo immer ich vorbeikam hört ich Menschen Weihnachtslieder singen. Ich redete mir ein, dass ich dieses Fest hasse, doch das half nichts gegen mein Alleinsein. Durch die Fenster einiger Häuser konnte ich reich geschmückte Weihnachtsbäume sehen. Sollte ich vielleicht doch zu Großmutter gehen? Ich fror, war hungrig und hatte keinen Platz zum schlafen. Ich setzte mich auf eine Parkbank und trank ausgiebig Cognac. Dieses Geschenk hatte ich mir selbst gemacht. Dann entschloss ich mich doch zu Großmutter zu gehen.
"Zu schwanken meinst du wohl", unterbricht Bernd amüsiert.
Marco lässt sich nicht stören und berichtet weiter: Sie war an Heiligabend auch oft allein, und sie freute sich sicher über meinen Besuch, dachte ich. Mich plagte mein schlechtes Gewissen, denn ich hatte noch nie viel nach der alten Frau gefragt. Wie wird sie wohl reagieren, wenn ausgerechnet ich sie jetzt besuche. Als ich ihre Wohnung erreichte, zögerte ich noch einen Weile. Doch dann entschloss ich mich doch zu ihr zu gehen. Als sie mich sah begrüßte sie mich freudig und zog mich an der Hand in die Wohnung. Ich war mehr als überrascht. Mit einer solchen Reaktion hatte ich nicht gerechnet.
"Ich wollte eigentlich nicht lange bleiben", log ich. "Ich wollte nur mal sehen wie es dir geht"
"Du wirst doch nicht weg gehen wollen", sagte die alte Frau empört. "Wo willst du denn hin?"
Sie wusste über meinen schlechten Lebenswandel genau Bescheid.
"Ich warte schon die ganze Zeit auf dich", meinte Sie geheimnisvoll.
"Wieso wusstest du, dass ich komme?", fragte ich erstaunt.
"Ach, das hab ich mir nur so gedacht", meinte Großmutter.
Ich stand in ihrer kleinen Wohnung und staunte. Der Tisch war reichhaltig gedeckt. In einer Ecke stand ein wunderschön leuchtender Weihnachtsbaum, und aus einem alten Plattenspieler ertönte schöne weihnachtliche Musik. Nachdenklich setzte ich mich an den Tisch der für zwei Personen gedeckt war. Vorsichtig fragte ich noch einmal nach:
"Erwartest du etwa noch Besuch?"
"Nein, nur dich", antwortete sie lächelnd.
Zum ersten mal in meinem Leben, machte ich mir ernsthafte Gedanken um das Leben meiner Großmutter. Großvater war schon zehn Jahre tot, und meine jüngste Tante hatte vor längerer Zeit geheiratet. Großmutter musste oft einsam gewesen sein, und das nicht nur an Heiligabend.
"Nun wirst du erst einmal hier in meiner warmen Stube bleiben mein Junge", meinte Großmutter. "Du kannst dich mal wieder so richtig satt essen, und ein Bad kannst du auch nehmen, du bist ja ganz schmutzig."
Großmutter steckte meine Kleider in die Waschmaschine und gab mir einen Schlafanzug meines Großvaters.
"Ich habe hier eine Kleinigkeit für dich besorgt", sagte Großmutter und überreichte mir mit zittrigen Händen ein Geschenk.
Ich sah sie an und hatte dafür nur eine Erklärung. Meine Großmutter war wohl nicht mehr ganz Herr ihrer Sinne. Woher wollte sie wissen, dass ich komme? Ich hatte sie in den letzten Jahren am wenigsten besucht. Ich öffnete das Geschenk. Es war eine goldene Armbanduhr. Ich hatte vor langer Zeit einmal in ihrer Gegenwart erwähnt, dass ich mir eine solche Uhr wünsche.
"Gefällt sie dir?", fragte sie mich mit freudiger Stimme. "Ich dachte ich schenke dir etwas besonderes. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du in deiner Zukunft auf solch schöne Dinge verzichten willst."
Ich sah meine Großmutter erstaunt an. Die goldene Uhr war wunderschön, aber sie passte nicht mehr zu meinem Leben. Meine Großmutter beschäftigte sich mit belanglosen arbeiten, dabei redete sie scheinbar wirres Zeug:
"Ich kann dich schon verstehen mein Junge. Viele Arbeiten sind zu schwer für dich. Du bist halt immer schon etwas gebrechlich gewesen, und Büroarbeiten kommen ja nicht in Frage, weil dir niemand in der Schule geholfen hat. Die ganze Welt war immer gegen dich. Niemand hat es wirklich gut mit dir gemeint."
Ich wunderte mich immer mehr über Großmutter. Gebrechlich war ich nun wirklich nicht. Ich war immer ein ganzer Kerl gewesen.
"Weißt du, der Sohn von den Lehmanns, der Ludwig, der ist immer dann krank, wenn er arbeiten soll. Sonst ist der kerngesund. Ich finde das ungerecht. Der Ludwig könnte arbeiten und will nicht, und du willst arbeiten und du kannst nicht. Aber so lange ich lebe werde ich für dich sorgen mein Junge. Du kannst doch nichts dafür, dass du in diesem Leben so hilflos bist."
Großmutters Worte ließen mich über vieles nachdenken. Mein Blick haftete an den brennenden Kerzen des Adventskranzes. Er stand auf einem Ecktisch neben einer wunderschönen Holzkrippe. An einem anderen Tag hätte ich die alte Frau vielleicht gar nicht ernst genommen. Doch an diesem Tag war alles anders. Großmutter redete, als ob ich schon morgen alles vergessen hätte. Ich wurde immer ruhiger und müder. Großmutters Worte wurden immer leiser. Sie schienen sich immer weiter von mir zu entfernen. Es war so gemütlich in Großmutters weihnachtlich geschmückter Stube. 36 Stunden später erwachte ich aus einer tiefen Bewusstlosigkeit. Ich begriff nicht was passiert war. Ich lag in einem Krankenbett. Meine Mutter hielt meine Hand, und schaute mich besorgt an.
"Bleib ruhig liegen", meinte sie. "Man hat dich an Heiligabend auf einer Parkbank gefunden. Du warst schon halb erfroren."
"Das kann doch nicht sein", sagte ich erstaunt. "Ich habe doch eben noch mit Großmutter Weihnachten gefeiert."
Mutter schaute mich mit großen Augen an und meinte: "Du musst dich irren Marco. Großmutter starb vorige Woche. Sie ist friedlich in ihrem Bett eingeschlafen. Heiligabend durfte sie dieses Jahr nicht mehr erleben."
Ich konnte nicht glauben was Mutter da erzählte. Alles war doch so real. Ich erinnerte mich doch noch an Großmutters Worte. Sie hatte so viel gesagt. Als wir Großmutters Wohnung räumten, glaubte ich viele Details aus meinem angeblichen Traum wieder zu erkennen. Ich habe nie begriffen was an diesem Heiligabend mit mir geschah.
"Du hast wohl doch zu viel Cognac getrunken", meint Bernd lachend. "Nach fünf Schluck aus der Pulle dringst du doch in Galaxien vor die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat."
"Glaubt doch was ihr wollt! Ich habe beim Räumen ihrer Wohnung ein Weihnachtsgeschenk gefunden. Mein Name stand darauf. Nun ratet mal was darin war?"
"Ein Buch von Münchhausen", lacht Bernd so laut, dass erneut alle Gäste der Kneipe mit lachten.
"Nee", sagt Marco lächelnd und zeigt auf seinen linkes Handgelenk. "Diese goldene Uhr."
Titel: Eine goldene Uhr
Autor: Ruediger Janson
gepostet von Ruediger Janson
am Fri, 18 Nov 2005 10:24:28 +0100
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