Eine „andere“, heutige Herbergsuche


Eine „andere“, heutige Herbergsuche

Lautlose, dicke Flocken bahnen sich ihren Weg auf die Erde, als sie die Straße entlanggeht. Sie streckt die Handflächen aus und lässt einige Schneeflocken darauf zergehen. Trotz hektischem Treiben um sie herum, geht sie ruhig ihren Weg, bleibt ab und zu stehen, um sich glitzernde Schaufenster anzusehen und lächelnd singenden, kitschigen Weihnachtsmännern zuzuhören. Vom Kaufrausch lässt sie sich nicht anstecken. Erstens, weil das Geld dazu sowieso nicht reichen würde, zweitens hat sie kein Verlangen nach irgendwelchem Luxus. Sie fühlt sich schon reich, seit sie in dieses Land gekommen war, seit sie nicht mehr bei jedem Schritt und Tritt Angst haben muss, verfolgt oder gar Schlimmeres zu werden. Fühlt sich glücklich, all dies Schöne erleben und miterleben zu dürfen. Sogar Leute, die achtlos diskriminieren sowie gedankenlos Vorurteile hegen, ohne sich informiert und nach den Beweggründen gefragt zu haben, haben dieses Glücksgefühl nicht unterdrücken können. Weil sie in ihrer ursprünglichen Heimat noch Furchtbareres erdulden hat müssen.
Wieder in ihrem Zimmer im Heim für Asylwerber angekommen, fällt ihr Blick gleich auf diesen Brief. Sie weiß sofort, was es ist, reißt den Brief ungeduldig auf. Bevor sie noch anfängt zu lesen, fängt ihr Herz an wie wild zu schlagen und sie braucht ihn eigentlich gar nicht mehr zu lesen, da sie sowieso schon spürt, was drin steht. Ihr Asylantrag ist neuerlich, nun endgültig, abgewiesen worden. Sie muss sich setzen, denn ihre Knie fühlen sich plötzlich so weich und zittrig an. Sie starrt vor sich hin und begreift es nicht. Hat sie doch all ihre Hoffnung darauf gesetzt, hier Schutz zu finden und mit der Zeit ein neues, ein ganz normales Leben anfangen zu können.
In ihrem Herkunftsland gehörte sie einer religiösen Minderheit an, war als Christin in einem von radikal-muslimischen Regime regierten Land, immer wieder Anfeindungen und Übergriffen ausgesetzt gewesen. Sie, eine Frau, hatte es gewagt, sich zur Wehr zu setzen, öffentlich Politik und Justiz zu kritisieren. Nach einer Teilnahme an friedlichen Kundgebungen von Studenten, war sie als „unreine Christin“ und „Feindin Gottes und des Islams“ verhaftet und ins Gefängnis gebracht worden. Sie zitterte bei dem Gedanken an diese Zeit des Grauens, in der Vergewaltigung und Folter auf der Tagesordnung gestanden hatten. Auch nach ihrer Entlassung hatte sie weiter um ihr Leben bangen müssen. Als Druck und Panik zu groß und wegen ihr ebenso Familienangehörige und Freunde bedroht worden waren, war sie geflohen, um die Menschen, die ihr lieb waren, nicht noch mehr zu gefährden. Leicht war ihr das nicht gefallen, liebte sie doch, trotz allem, ihre Heimat. Über Umwege landete sie schließlich in Österreich, wo sie sich Ruhe, Sicherheit und vor allem Frieden erhoffte. Einfach nur als allen anderen gleichwertiger Mensch leben wollte. Im neuen Land fasste sie dann allmählich wieder Mut, fand einfühlsame Personen, die sich bemühten, zu helfen.
Und nun - ihre ganze Hoffnung, ihr Vertrauen, dass sie langsam und nur zögernd aufgebaut hatte - mit einem Schlag zunichte gemacht.
Der Weg zum Flugzeug erscheint ihr endlos lang, ihre Füße schwer. Von irgendwoher hört sie Glocken läuten. Fein, zart, dann intensiv, das nahende Fest ankündigend. Glocken - im Flugzeug drin werden sie vom startenden, anschwillenden Motorengeräusch übertönt. Erst jetzt sieht sie sich um, schaut in ausdruckslose, manchmal tränennasse Gesichter. Wie viel Schicksal, wie viel Leid sich wohl hinter jedem verbirgt? Ausgewiesene, Abgeschobene - und jeder einzelne davon hat seine eigene tragische Geschichte, von der niemand Genaueres wissen will. Aus dem Fenster sehend, erblickt sie noch einige Lichter, die immer schwächer werden, bis sie gar nicht mehr zu sehen sind und ihre ungewisse Zukunft immer mehr zur Gegenwart wird. Nur das Glockengeläute klingt ihr noch einige Zeit im Ohr nach – lieblich und friedlich.

Titel: Eine „andere“, heutige Herbergsuche
Autor: Gabriele Maricic-Kaiblinger
gepostet von Gabriele Maricic-Kaiblinger
am 21.12.2014 10:23
E-Mail: pantomime@aon.at

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