Ein Heilig-Abend


Ein Heilig-Abend

Langsam setzte er sich auf. Seine Füße schlüpften in die zerschlissenen Filzpatschen, die vor dem Bett standen und seine rechte Hand griff nach dem Morgenmantel, der fein säuberlich über einer Sessellehne hing. Langsam, die Hand auf einen Stock gestützt, bewegte er sich ins Badezimmer. Als er wieder rauskam, fragte ihn der Mann, mit dem er das Zimmer teilte:
"Was ist los? Was tust du schon so früh auf?"
"Weißt du nicht, was heut' für ein Tag ist?"
"Was denn für einer?"
"Heilig-Abend."
"Und? Den feiern wir doch erst am Abend ... jetzt ist es sieben Uhr ..."
"Ja, aber sie könnten kommen ..."
"Wer?"
"Mein Sohn, die Enkel und ihre Familien ..."
Der Mitbewohner seufzte.
"Seit drei Jahren hat dich niemand besucht."
"Sie wohnen weit weg."
"Hunderte Kilometer sind trotzdem nicht aus der Welt."
"Letztes Jahr war jemand krank."
"Aber nicht alle."
"Sie haben Pakete geschickt."
"Ja, ja ..."
"Bei dir kommt doch auch niemand."
"Ich hab' auch niemanden mehr."
"Heute kommen sie bestimmt. Ich spür's."
Der alte Mann zog sich an und zündete die vier Kerzen am Adventgesteck an, das in der Mitte des Tisches stand. Sein "Zimmergenosse" seufzte nochmal, dann stand auch er auf. Eine halbe Stunde später gingen sie in den Gemeinschaftsraum, um zu frühstücken.

Das Mittagessen nahmen sie heute im Zimmer ein, da der Gemeinschaftsraum für die Weihnachtsfeier am Abend festlich geschmückt wurde. Sie nahmen beide nur wenig zu sich, um beim Festmahl etwas mehr zulangen zu können. Weihnachtsmusik klang aus dem kleinen Radio und die Kerzen am Adventkranz hatten die beiden ebenfalls wieder angezündet, um jetzt schon etwas Stimmung herbeizuzaubern.
„Siehst du, heuer hast du nicht mal Post bekommen“, konnte sein Zimmerkumpel sich's nicht verkneifen zu sagen. Er war nun mal Realist, schon in jungen Jahren gewesen.
„Gutes Zeichen. Sie kommen selbst. Jetzt ist es sicher“, antwortete der alte Mann und lächelte.
„Du bist ein Träumer ...“
„Solltest du auch mal versuchen.“
Der „Realist“ schüttelte nur verständnislos den Kopf. Träumen? Er hatte die Wirklichkeit schon immer genommen, wie sie war.
„Wenn ich meine Träume nicht hätte, was dann noch …?“. Der alte Mann blies die Kerzen aus und legte sich aufs Bett, ohne eine Antwort abzuwarten. Für ihn war's sowieso mehr Feststellung als Frage. Das wusste sein Gegenüber und legte sich ebenfalls zum Mittagsschläfchen hin.

Um halb fünf Uhr Nachmittag nahmen alle Altersheimbewohner im festlich dekorierten Gemeinschaftsraum Platz. In der Ecke beim großen Fenster war ein Christbaum mit bunten Kugeln, Nüssen, roten Äpfeln, Lebkuchen und Strohsternen geschmückt worden. Elektrische Kerzen ließen die Kugeln glänzen. Daneben, auf einem kleinen Tisch, stand eine Krippe mit selbstgeschnitzten und bemalten Figuren. Weiße Tischdecken zierten die Tische, in deren Mitte jeweils ein nach frischen Nadeln duftendes Gesteck mit einer Kerze drauf, stand. Selbst auf die Fensterscheiben waren mit weißem Kunstschnee Sterne gesprüht.
Der „Hauspfarrer“, der ebenso jeden Sonntag für die betagten Menschen Zeit hatte, zelebrierte die Hl. Messe. Doch der alte Mann, ansonsten stets andächtig den Worten des Pfarrers lauschend, war heute unruhig. Immer wieder blickte er zur Eingangstür und als der Pfarrer das Weihnachtsevangelium verlas und vom Kind in der Krippe erzählte, da schweiften seine Gedanken vollends ab. Er dachte an seine eigenen Kinder, Enkel und Urenkel und dass ihr Erscheinen bei ihm persönlich genausoviel Freude auslösen würde wie das Gedanken an die Geburt von Jesus. Sogar die Weihnachtslieder sang er nur bruchstückhaft mit, obwohl er die Texte alle konnte und immer gerne gesungen hatte. Und als eine Gruppe Volksschulkinder ein Hirtenspiel vorführte, waren seine Gedanken abermals bei seinen Nachkommen.
Beim Festmahl stocherte der alte Mann nur herum, auch von den Keksen kostete er, der ansonsten trotz seines Alters noch sehr vernascht war, nur wenig. Nicht mal über das Geschenk der Heimleitung – ein Paar warme Hausschuhe, die er sich bereits lange gewünscht hatte – konnte er sich so richtig freuen. Es fehlte einfach etwas. Etwas fehlte ganz und gar. Schließlich konnte er die heitere Feststimmung nicht länger ertragen. Er ging auf sein Zimmer und wartete.
„Sie kommen sicher bald“, murmelte er dabei vor sich hin.
Später, es war neun Uhr abends vorbei, kam sein Zimmer-Mitbewohner.
„Was bläst du hier alleine Trübsal? Du kennst doch deine Verwandten ...“
„Sie kommen. Ich spür's. Vielleicht … vielleicht morgen am Christtag. Ja, das wird’s sein. Sie kommen am Christtag. Ist doch logisch! Ist ja erst der richtige Feiertag“, fügte er noch, mehr für sich selbst, hinzu. So konnte er noch einen Tag hoffen, dass es so sein könnte … und träumen.

Titel: Ein Heilig-Abend
Autor: Gabriele Maricic-Kaiblinger
gepostet von Gabriele Maricic-Kaiblinger
am 09.12.2014 18:27
E-Mail: pantomime@aon.at

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