Besuch
Seine Schritte knirschten im Schnee, als er den einsamen Waldweg entlangging. Der gefrorene Schnee und das kalte Licht des Mondes erhellten seinen Weg. Ab und zu fielen von einem Baum Flocken auf seinen bemützten Kopf oder gar auf seine Nase. Wenn dies passierte, wischte er die Nässe ganz schnell weg, da er ohnehin genug fror. Dann steckte er die Hand rasch wieder in die Jackentasche, denn Handschuhe hatte er keine an. Er hatte ganz vergessen, wie kalt ein Winter in den Bergen sein konnte.
Als er aus dem Wald trat, konnte er schon das Haus sehen, dass etwas abseits vom übrigen Dorf lag. Je näher er kam, desto heimeliger wurde ihm zumute. Es sah alles noch so aus wie früher. Na ja, fast. Ein wenig renoviert und modernisiert worden war natürlich schon. Das Haus wies eine neue Holzverkleidung auf und der Stall zeigte sich in festem Mauerwerk. Eine alte und eine neue Rodel lehnten neben der Stalltür. Er erkannte die alte und wieder wurde ihm warm ums Herz. Er war sich sicher, dass dies immer noch der schönste Hof im Ort war.
Das Licht über der Eingangtür leuchtete, ansonsten war jedoch alles dunkel. Obwohl er vermutete, dass niemand zu Hause war, klopfte er. Doch alles blieb ruhig. Er sah auf die Uhr. Weihnachtsmettenzeit. Dort werden sie sein, in der Kirche. Er lächelte. Dann ging er zur Stalltür und freute sich, dass diese nicht verschlossen war. Er tastete sich ins Innere, fand den Lichtschalter und knipste ihn an. Sein Blick fiel auf einen alten Melkschemel und er lächelte. Dass der noch da war, trotz der modernen Melkvorrichtung, beruhigte ihn irgendwie. Trotz Neuem sollte das Alte nicht ganz verloren gehen – das fand er schön.
Er setzte sich neben das Kalb, das nicht weit von der Eingangstür auf Stroh gebettet war. Hier war es wenigstens etwas warm und er musste nicht mehr so frieren, während er wartete. Wiederum musste er lächeln. Er fühlte sich plötzlich so heimelig und weihnachtlich. War nicht Jesus in einem Stall zur Welt gekommen? Und nun saß er ebenfalls hier in einem Stall, genau am Weihnachtsabend.
Na, jetzt werde ich aber sentimental. Aber ... was macht das schon ... heute ...
"Können wir nicht hierbleiben und mit den neuen Sachen spielen?" fragte die zehnjährige Marianne die Mutter. Ihr Bruder, der zwölfjährige Christian, der eine solche Frage nie zu stellen gewagt hätte, blickte die Mutter nun ebenfalls erwartungsvoll an.
"Ich hör' wohl nicht recht", antwortete diese. "Am Weihnachtsabend nicht in die Christmette? Tja, wenn ihr am Nachmittag in die Kindermette gegangen wärt', aber wer hat denn gebettelt, erst in die Nachtmette gehen zu dürfen, von wegen schon zu erwachsen für die Babymesse und so ..."
Der Vater nickte bekräftigend zu diesen Worten, also seufzte Marianne resignierend und Christian wandte rasch seinen hoffnungsvollen Blick ab und zog sich seine Stiefel an.
"Ihr wollt' doch sicher dem Jesuskind auch danke sagen, dafür, dass es euch gut geht und ihr einen Haufen Geschenke bekommen habt. Schließlich ist es der Geburtstag von Jesus, den wir feiern, nicht eurer", belehrte sie nun die Großmutter.
"Wir sind ja dankbar", warf Christian ein.
"Und freuen uns", ergänzte Marianne.
"Na, dann macht nun Jesus ein Geschenk und feiert seine Geburtagsmesse mit. Das ist für ihn so, wie wenn ihr eine Geburtagsparty feiert", meldete sich nun Großvater zu Wort. Er und Großmutter lebten mit ihrem Sohn und dessen Familie auf diesem Bauernhof, etwas außerhalb vom Dorf, kurz bevor der Wald begann.
"Ah", machte Marianne.
"Geburtstagsparty ...?! So hab' ich das noch gar nicht gesehen. Dann kommt endlich, das dürfen wir doch nicht verpassen", war Christians Kommentar zu Großvaters Erklärung.
Und so machte sich die Familie frohen Mutes auf den fünfzehnminütigen Weg ins Dorf zur Kirche.
Er streichelte das schlafende Kalb neben sich. Er fühlte sich wohl und es war ihm nicht mehr so kalt. Seine Gedanken wanderten zurück. Zurück in seine Kindheit auf diesem Hof.
Mit drei Schwestern und einem Bruder war er hier aufgewachsen. Er und seine Geschwister hatten schon früh neben der Schule auf dem Hof mithelfen müssen. Doch soweit er sich erinnern konnte, mussten das ebenfalls die meisten anderen Kinder aus seiner Klasse, denn richtig reich war eigentlich keiner gewesen. Doch seiner Familie fehlte es an nichts wirklich Wichtigem und was es sogar im Überfluss gab, war Liebe. Er erinnerte sich jedenfalls nur an eine glückliche Kindheit und Jugend. Trotzdem zog es ihn fort, in die weite Welt, weg aus dem engen Bergdorf, ein bisschen Freiheit schnuppern. Da er der Älteste war, hatte ihm sein Vater zwar als seinen Nachfolger angesehen, der später den Hof übernehmen würde, doch so ein Leben konnte er sich überhaupt nicht vorstellen. Und dann, mit neunzehn Jahren, hielt ihn hier nichts mehr. Nur einen kurzen Abschiedsbrief hinterlassend, schlich er sich eines Nachts davon, als sein eineinhalb Jahre jüngerer Bruder, mit dem er das Zimmer teilte, bereits tief und fest schlief.
Tja und nun war er beinahe sechsunddreißig Jahre alt und saß hier im Stall und wartete auf seine Familie. Mit sehr gemischten Gefühlen, denn ... würden sie ihn jetzt noch sehen wollen? Waren sie nicht schon an ein Leben ohne ihn gewöhnt? Lebten seine Eltern überhaupt noch?
Solche und ähnliche Gedanken quälten ihn, bis ihn die Müdigkeit übermannte und er einnickte.
Marianne lief auf dem Heimweg immer ein Stück voraus. Als sie in die Nähe des Hofes kam, blieb sie plötzlich stehen, drehte sich um und rief aufgeregt:
„Da ist Licht! Im Stall brennt Licht!“
„Wird dein Vater wahrscheinlich vergessen haben, auszuschalten“, war Großvaters Meinung.
„Auf keinen Fall. Ich gab' ganz bestimmt ausgeschaltet.“
„Vielleicht beschert das Christkind auch den Kühen“, bemerkte Christian.
„Blödmann“, war Mariannes Antwort.
„War auch 'n Scherz“, verteidigte sich Christian.
„Eigenartig“, murmelte der Vater vor sich hin, als er zum Stall ging und die Tür öffnete. Seine Hand wollte bereits zum Lichtschalter greifen, als er ein Geräusch hörte und den Kopf wendete. Er sah einen Mann, der sich eben vom Melkschemel erhob und ihn anstarrte.
„Wer sind Sie?! Was tun … Oh Gott! Das kann doch nicht wahr sein … Martin?!“
Innerhalb einer halben Minute spiegelten sich in seinem Gesicht anfängliche Empörung, Unsicherheit, Erkennen bis hin zu Freude und sentimentaler Gefühlsregung wider.
„Bernhard“, stellte dieser fest – trocken, da es ihm schwerfiel, mehr zu sagen.
Und dann lagen sich die beiden Brüder in den Armen.
„Komm, komm mit rein. Na, die werden vielleicht Augen machen“, sagte Bernhard, als er sich aus der Umarmung löste.
Als sie das Haus betraten, rief der Großvater aus der Küche: „Und? Doch vergessen, abzuschalten – oder ist was Besonderes los?“
Er hatte kaum den Satz beendet, als plötzlich die Großmutter, die eben vom oberen Stockwerk in den Vorraum herunterkam, schrill ausstieß: „Nein!“
Die restlichen Familienmitglieder stürmten nun ebenfalls in den Hausgang und sahen die Großmutter in den Armen eines Mannes liegen, während der Vater daneben stand, breit grinste und sagte: „Was g a n z Besonderes ist los. Besuch ist da.“
„Mein Gott … bald siebzehn Jahre … Bub …“, stammelte Großvater und Tränen schimmerten in seinen Augen. Und die Großmutter schluchzte sowieso ununterbrochen und wollte Martin überhaupt nicht mehr loslassen. Nur die Kinder standen da und wussten überhaupt nicht, was los war.
„Kommt, kommt doch in die Stube“, meinte nun die Mutter, die begriffen hatte, wer da gekommen war, obwohl sie Martin nur kurz kennengelernt hatte und sich eher dunkel an ihn erinnerte.
„Ja, komm“, brachte die Großmutter mühsam über die Lippen, „du musst ja Hunger haben.“
Sie begaben sich alle in die Stube, wo auch der geschmückte Weihnachtsbaum stand.
Während Martin aß, wurde er mit Fragen überhäuft.
„Wo warst du so lange?“ „Wo kommst du jetzt her?“ „Was hast du all die Jahre gemacht?“ „Warum hast du dich nicht gemeldet?“ „Warum bist du nicht früher gekommen?“
„Ja lieber, neuer Onkel, weißt du denn nicht, dass es Post, Telefon, Handy und Internet gibt?“, fragte da schließlich Marianne ganz frech.
„Oder hast du im Urwald gelebt?“, wagte Christian, nicht minder frech, zu fragen.
„Kinder!“, rief die Mutter.
„Ach lass sie nur. Im Grunde haben sie ja recht. Ich hätte mal was von mir hören lassen können. Aber … na ja … ich genierte mich eben ...“
Bei Kaffee und Weihnachtskeksen - die Kinder waren mittlerweile ins Bett geschickt worden, da es bereits ein Uhr nachts vorbei war, nicht jedoch ohne dem Versprechen, ihnen morgen alles zu wiederholen, was der Onkel gesagt hatte - erzählte Martin seine Geschichte. Wie er voller Abenteuerlust und Fernweh von zu Hause weg ging. Wie er sich die ersten Jahre in Australien als Schafscherer verdingte und sich oft allein fühlte in diesem weiten, endlos weitem und einsamen Land, wie ihm schien.
„Die Schafscherer waren harte Burschen und hatten meistens nur derbe Sprüche oder Schweigen als irgendein gutes Wort oder Mitleid übrig ...“
Wie er schließlich nach Sidney ging, da er sich in der Stadt größere Chancen erhoffte, es zu etwas zu bringen. „Erst habe ich als Hilfskraft an einer Tankstelle gearbeitet, dann als Laufbursche und sozusagen 'Mädchen für alles' in einem Kaufhaus. Dazwischen war ich auch mal arbeitslos und ziemlich unten, aber davon will ich lieber nicht sprechen. Dann fand ich eine Stelle in einem Elektroladen. Und diese Arbeit machte mir zum ersten Mal richtig Spaß. Du weißt ja, Vater, ich hab' zwar auf deinen Wunsch hin die landwirtschaftliche Schule besucht, aber viel mehr habe ich mich fürs Kaufmännische interessiert. Letztes Jahr ging der Besitzer, der übrigens mein bester Freund geworden ist, in Pension und verkaufte mir den Laden. Natürlich brauchte ich dafür einen Kredit, aber das Geschäft läuft gut und in diesem Jahr habe ich schon einen großen Teil wieder zurückbezahlt und außer einem Mitarbeiter noch einen Lehrling eingestellt. Tja und nun, da es mir recht gut geht, habe ich mich wieder getraut, nach Hause zu kommen.“
„Aber Bub … du … du hättest doch jederzeit ...“; sagte sein Vater und musste dabei ein paar Mal kräftig schlucken.
„Ich weiß, aber ich wollte nicht … nicht als Versager ...“
„Wir lieben dich doch, unser Kind … hätten gern mal von dir gehört … irgendein Lebenszeichen … haben uns doch Sorgen gemacht ...“ Die Tränen seiner Mutter waren noch nicht versiegt.
„Ich weiß doch Mama, hab' oft daran gedacht, aber … versteht bitte … ich konnt' es einfach nicht.“
„Ich versteh' dich“, sagte da sein Bruder und legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Danke“, antwortete Martin, „aber … da ist noch was ...“
Alle sahen ihn erwartungsvoll an.
„Ich … ich bin nicht allein gekommen ...“
„Was?!“, rief seine Mutter aus,in deren Kopf bereits bestimmte Gedanken heranreiften.
„Ich … ich bin verheiratet … habe eine Tochter und … und in sechs Monaten erwarten wir unser zweites Kind.“
„Wo sind sie?“
„In einem Gasthof im Nachbardorf.“
„Sag, bist du verrückt?!“, rief seine Mutter resolut, von Tränen keine Spur mehr. „Nicht genug, dass du so lange weg warst und mir ein Enkelkind vorenthalten hast – jetzt quartierst du deine Familie auch noch im Nachbardorf ein … was soll das?!“
„Na ja … ich wusste ja nicht, wie ihr mich aufnehmt ...“
„Wusstest du nicht, hat?! Wusstest nicht, dass deine Eltern dich lieben, auch wenn wir mal gestritten haben wegen deiner jugendlichen Flausen. Hol sie sofort her!“
„Aber Mama ...“
„Kein aber Mama ...“
„Es ist zwei Uhr morgens ...“
„Er hat recht“, wandte jetzt sein Vater ein, „aber morgen früh – das heißt, eigentlich ja heute früh – nach dem Frühstück holen wir sie sofort.“
„Aber schon ganz früh“, warf die Mutter noch ein und dann kullerten ihre Tränen abermals. „Das wird ein Weihnachtstag“, murmelte sie nur noch, bevor sie zu Bett ging.
Titel: Besuch
Autor: Gabriele Maricic-Kaiblinger
gepostet von Gabriele Maricic-Kaiblinger
am 09.12.2014 18:27
E-Mail: pantomime@aon.at
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