Heimatsuche heute


Heimatsuche heute

Sie wusste nicht, wie lange sie schon gegangen war und wo genau sie sich überhaupt befand. Die Menschenschlange vor ihr war lang, die hinter ihr noch länger. Nur langsam ging es vorwärts. Es war kalt und der Tag wich immer mehr der Dunkelheit der Nacht. Wie weit die Grenze zu Österreich noch entfernt war, sie wusste es nicht. Wie lange sie schon nichts mehr gegessen und getrunken hatte, sie wusste es nicht. Sie spürte nur, dass sie nicht mehr lange konnte, dass Müdigkeit und Schwäche sie bald übermannen würden. Sie war nicht allein, trug neues Leben in ihr, das bald in die Welt drängen würde.

In die Welt. In welche Welt?

In einer besseren Welt wollte sie ihr Kind gebären. Das hatte sie sich geschworen, nachdem ihr Mann nach der Veröffentlichung eines regimekritischen, kriegsanprangernden Artikels, den er geschrieben hatte, erschossen worden war. Einfach so. Nur weil er öffentlich zu seiner Meinung stand, einer Meinung, die Tausende im Land mit ihm teilten, aber kaum jemand zu äußern wagte. Aus Angst. Da hatte sie sich geschworen, ihrem Kind zuliebe dieses, ihr Heimatland zu verlassen, ihre Familie zu verlassen, damit es ohne Angst aufwachsen konnte. Damit das Sterben ihres Mannes für die Freiheit, für die er sich begeistert und den Frieden, für den er sich eingesetzt hatte, nicht umsonst gewesen war. Damit das Andenken an ihn und seine Werte gewahrt würde. Dafür vertraute sie sich Schlepper an, obwohl sie wusste, dass diese illegal handelten und die Schutz suchenden Menschen schamlos ausnützten. Dafür nahm sie das Geld an, das Verwandte und Freunde für sie zusammengelegt hatten, damit wenigstens eine von ihnen die Flucht bezahlen konnte. Dafür stieg sie in ein überladenes Boot, obwohl sie wusste, dass auf diesem Weg schon viele Menschen den Tod gefunden hatten. Dafür machte sie sich auf ins Ungewisse.

Endlich konnte sie die Grenze sehen. Die letzten Meter erschienen ihr noch schwerer. Dann legte ihr jemand eine Decke über die Schultern und drückte ihr eine Flasche Wasser in die Hand. Sie trank hastig.
Sie war über der Grenze. Sie war in Österreich. Sie hörte Glocken läuten. Weihnachten, ja Weihnachten wurde hier gefeiert. Ein Fest der Liebe, wie sie einmal gehört hatte, ein Fest des Zusammenseins. Ein Fest zu Ehren der Geburt eines Kindes, das die Menschen hier als Gott verehrten. Sie spürte ihr Kind in ihr, spürte wie es sich bewegte. Seine Geburt würde i h r Fest sein. Es würde in Freiheit geboren werden. In Freiheit und Sicherheit. Kurz musste sie lächeln. Aber dann wurde sie wieder von der Wirklichkeit gepackt. Sie spürte neben der Hilfsbereitschaft ebenfalls den Hass, der ihr von manchen Menschen entgegenschlug, spürte das Misstrauen und die Angst.
Angst? Aber Angst habe doch ich, wollte sie hinausschreien. Doch sie tat es nicht. Aus Furcht, dass die Stimmung kippen und die Angst schließlich auf beiden Seiten ein nicht enden wollender Kreislauf werden würde.

Sie war in Freiheit und Sicherheit ...

Und wenn sie nicht bleiben durfte? Sie wollte nicht daran denken. Nicht jetzt. Nicht bevor ihr Kind geboren war. Sie stieg in den Bus, zu dem sie nun geführt wurde und setzte die Reise ins Ungewisse fort ...

Autor: Gabriele Maricic-Kaiblinger
Titel: Heimatsuche heute
Copyright © by Gabriele Maricic-Kaiblinger
gepostet von Gabriele Maricic-Kaiblinger
am 09.12.2017 09:36

Alle Gabriele Maricic-Kaiblinger Gedichte und Geschichten auf den Fest- und Feiertagsseiten


http://www.weihnachtsseiten.de/weihnachtsgeschichten/autoren/m/maricic-kaiblinger/heimatsuche-heute/home.html

Die Weihnachtsseiten    (http://weihnachtsseiten.de)
Copyright © by Josef Dirschl, weihnachtsseiten.de    -    info@weihnachtsseiten.de

ALLE RECHTE VORBEHALTEN / ALL RIGHTS RESERVED