Auf der Suche nach ihrem Platz


Auf der Suche nach ihrem Platz
Herbergsgeschichte von Gabriele Maricic-Kaiblinger

Sie wusste nicht, wie lange es gedauert hatte, bis sie endlich die Grenze überqueren konnte. Stunden, Tage, Wochen – zu lange war sie schon unterwegs. Zu lange, um noch klar denken zu können. Das Zeitgefühl hatte sie sowieso schon längst verloren. Und sich irgendwann ebenso jegliches sonstige Fühlen untersagt. Denn es bereitete nur Schmerz.

Schwer war es ihr gefallen, ihr Zuhause zu verlassen. Besonders, seit ihr regimekritischer Vater auf offener Straße regelrecht hingerichtet worden war. Einfach so. Nur weil er eine eigene Meinung vertreten und den Irrsinn des religiösen wie staatlichen Wahns nicht mehr mitmachen und schon gar nicht hinnehmen hatte wollen.
Sie wollte ihre Mutter nicht alleine zurücklassen, aber diese hatte sie angefleht, aus diesem Land zu flüchten. Vor Willkür, Unterdrückung und Folter. In eine bessere Zukunft. Denn hier hatte sie keine, schon gar nicht als Frau. Dafür hatte ihre Mutter ihr bisschen Erspartes gegeben und noch von Verwandten und Freunden Geld geliehen. Damit sie einen skrupellosen Schlepper für einen illegalen Fluchtweg bezahlen konnte. Denn einen legalen gab es nicht.
"Wo soll ich denn hin?", hatte sie ihre Mutter gefragt. "Niemand will Flüchtlinge haben, das liest und hört man doch immer wieder."
"Geh' nur. Es gibt für jeden einen Platz auf dieser Welt. Such' den deinen", war die Antwort ihrer Mutter gewesen.
So war sie gegangen. Geflohen aus ihrem Heimatland, um ihren Platz zu finden und in Sicherheit und Frieden leben zu können. In einem der Länder, in dem der Überfluss weggeworfen wurde und das doch überfordert war. In einem der Länder, in dem sie nur lästig und unerwünscht war, eine von vielen, die ins Land strömten und vor denen die Menschen Angst hatten. Angst? Angst hatte doch s i e ... In ihrem Heimatland war Angst ein ständiger Begleiter gewesen, der auch auf der Flucht eng bei ihr geblieben war.
Nie mehr würde ihr der Junge aus dem Sinn gehen, den sie auf ihrem Fluchtweg kennengelernt hatte. Erst 15 Jahre war er gewesen. 15 – noch ein halbes Kind. Seine Eltern hatten ihren ganzen Besitz verkauft, um ihm, ihrem einzigen Kind, die Flucht zu ermöglichen. Aus einem Land, in dem Krieg den Alltag beherrschte. Aus einer Gewaltherrschaft, deren Ende nicht abzusehen war. Der Abschied hatte ihnen schier das Herz zerrissen, aber ihr Sohn sollte in Sicherheit und Frieden leben können, so wie ihre Mutter sich das für sie wünschte. Durch die Wüste hatte er müssen, mit zu wenig zu trinken und noch weniger zu essen. All die Mühen, die er auf sich genommen hatte, um dann die Fahrt auf dem überfüllten Boot nicht zu überleben. 15 Jahre ...
Sie hatte ihn noch packen wollen, als er durch das Gedränge den Halt verlor und ins Wasser stürzte. Hatte ihm noch helfen wollen, wieder ins Boot zu gelangen, es aber nicht geschafft. Sein Schicksal ging ihr nah. Eins von vielen, über das sich die meisten schon keine Gedanken mehr machten. Der größte Schicksalsschlag für dessen Eltern, die daheim auf Nachricht warteten, die nie mehr kommen würde ...

Jetzt endlich war sie über der Grenze, bekam zu essen, zu trinken, ein Medikament gegen den Husten, der sie seit Tagen quälte, und einen Platz zum Schlafen. Langsam kam sie zur Ruhe. Zumindest für diesen Moment. Einen Moment aufatmen. Schlafen. Einen Moment das Wohlwollen spüren, dass ihr Menschen entgegenbrachten. Aber sie war feinfühlig, sie spürte ebenfalls den Hass, der ihr teilweise entgegenschlug. Wieder Angst. Angst der Menschen, die sich vor den Fremden fürchteten, die da ins Land strömten.
"Angst haben doch w i r!", wollte sie am liebsten hinausschreiben, aber sie schwieg. Aus Angst, dass die Hilfsbereitschaft sich ins Gegenteil umkehren könnte und die Angst schließlich auf beiden Seiten ein nicht enden wollender Kreislauf werden würde.
Einen Moment das Denken ausschalten. Und dann – weiter in eine ungewisse Zukunft und mit der Angst, ihren Platz nie zu finden ...

Titel: Auf der Suche nach ihrem Platz
Autor: Gabriele Maricic-Kaiblinger
gepostet von Gabriele Maricic-Kaiblinger
am 20.12.2015 11:32
E-Mail: pantomime@aon.at

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